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Des Dichters Haar war meiner Meinung nach nicht ganz einwandfrei gescheitelt, und die Gedichte, die er zum besten geben zu dürfen meinte, gefielen ihm einst selbst, als er sie schrieb, sehr; doch jetzt, als er sie rezitierte, taten sie dies eigentümlicherweise nicht mehr. [...] Ein selbst nicht Ergriffener vermag nicht ergreifend zu wirken.

Robert Walser: Vortragsabend

 Lesungen in der Antike: Griechenland

           

Die griechischen Epen waren „Aufbewahrungsort“ für aristokratische Werte. Vorgetragen wurden die Heldenepen von Wandersängern, die sich vor die Notwendigkeit gestellt sahen, einerseits lange, bekannte Geschichten zu bieten, andererseits ihren Vortrag dem jeweiligem Publikum und Anlaß nach zu variieren.



 „Denn jenen Gesang preisen die Menschen stärker, der für die Hörer der neuste ist“
„Lesungen“ im antiken Griechenland

Die griechischen Epen waren „Aufbewahrungsort“ für aristokratische Werte. Vorgetragen wurden die Heldenepen von Wandersängern, die sich vor der Notwendigkeit sahen, einerseits lange, bekannte Geschichten zu bieten, andererseits ihren Vortrag dem jeweiligem Publikum und Anlaß nach zu variieren. Auch die fortschreitendende Professionalisierung sowie die damit verbundenen Formen und Anlässe von Lesungen wurden durch die „Nachfrage“ des Publikums bestimmt. (FN1)

Um 2000 v. Chr. waren im heutigen Griechenland kleine Staaten gegründet worden, die vom Kontakt mit den hochentwickelten Nachbarn profitieren. So übernahmen sie z.B. das kretische Schriftsystem. Diese sogenannte „achäische“ Kultur brach um das Jahr 1200 v. Chr. aufgrund von Naturkatastrophen und der sogenannten „Dorischen Wanderung“ zusammen, was dazu führte, daß die Führungsschicht in die verschonten Randgebiete auswanderte - vor allem nach Kleinasien. Dort versuchte die geflohene Aristokratie die Traditionen und die Erinnerungen an die verlorene Heimat zu bewahren. Aufbewahrungsmittel war die Heldendichtung, die Epik, deren einziges Thema letztlich ruhmvolle Heldentaten sind. Die Epik trug so zur Ausformung und Bestätigung eines aristokratischen Ideals und Selbstverständnisses bei. Im Rahmen eines Festbanketts, dem Symposion, Heldenepen vorgetragen wurden, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine aristokratische Identität herzustellen.
Vorgetragen wurden die Heldenepen von Wandersängern, die sich vor der Notwendigkeit sahen, einerseits lange, dem Publikum bekannte, im Versmaß des daktylischen Hexameters überlieferte Geschichten zu memorieren, andererseits ihren Vortrag dem jeweiligem Publikum und Anlaß nach zu variieren.
Den Sängern stand dafür ein reicher Schatz von metrisch passenden Formeln zur Verfügung, die sich im Laufe der Sängertradition bildeten und auf die er in der Situation des Vortrages zurückgreifen konnte, wenn es zum Beispiel, galt typische Szenen und Details wie die Rüstung des Helden, den Truppenaufmarsch, die Schlacht, aber auch Mahlzeiten oder Leichenfeiern zu schildern. Wie wichtig für den Sänger das Erkennen des Publikumsgeschmacks und eine entsprechende Anpassung seines Vortrags war, belegt ein Zitat aus der Odyssee: „Denn jenen Gesang preisen die Menschen stärker, der für die Hörer der neuste ist.“(FN2) Die Hervorhebung des Neuigkeitscharakters belegt, daß auch der Aspekt der Unterhaltung ebenso wie der künstlerischen Innovation in der Publikumsgunst eine Rolle spielten.
Homers Epen, die einerseits noch in der Tradition der Mündlichkeit stehen, des improvisierten Singens, machen sich andererseits die – seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. auf der von den phönizischen Handelspartnern übernommenen Konsonantenschrift beruhende – Schriftlichkeit zunutze, die komplizierter gebaute Lieder, Großtexte, erlaubt. Ein wesentliches Kennzeichen von Homers Epen (und nach ihm ein Wesensmerkmal von Literatur schlechthin) ist – anders als es bei einem Medium zu erwarten wäre, daß eine bestimmte Fassung eines bis dahin mündlich tradierten Stoffes fixiert und somit „Gesetz“ werden lassen könnte - , daß die Werte der Gesellschaft nicht als absolut gültig dargestellt werden, sondern im Text, von den Figuren und durch die Handlung durchdacht, infrage gestellt und nur modifiziert bestätigt werden. Pointiert könnte man sagen: die Erfahrung der Sänger, daß je nach Zuhörerschaft und Anlaß die Lieder anders sein müssen, daß Texte und die in ihnen enthaltenen Vorstellungen beeinflußbar, konstruiert sind, ist in die Schriftform der Literatur als wesentliche Erkenntnis eingeflossen. Bezeichnenderweise ist unbekannt, wer die vielen Urheber waren, aus deren poetischen Hervorbringungen die Odyssee zusammengetragen wurde. Ihre Namen sind nicht bekannt, nicht einmal der Name „Homer“ selbst kommt in der Ilias oder der Odyssee vor.

Sich einen Namen zu machen wurde – im antiken Griechenland genau wie in der europäischen Literatur der Neuzeit – erst im Zuge der Professionalisierung der Literatur wichtig, die in Griechenland im 6. Jahrhundert v. Chr. einsetzt.
In den sich entwickelnden Stadtstaaten gab es bei Götterfesten, kultischen Handlungen, olympischen Spielen – sprich: bei allen öffentlichen Veranstaltungen – zahllose Orte und Anlässe für Dichtung, so daß im Zusammenhang mit der griechischen Kultur vor dem Aufkommen der Schrift von einer „Lied-Kultur“ gesprochen wird. „Lied“ deshalb, weil die Dichtungen oft gesungen und auf der Lyra begleitet wurden, dem zentralen Instrument für den Musik- und Gesangsunterricht in den antiken Schulen. (FN3)

Die ersten Berufsdichter sind um die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert auszumachen. Waren die namentlich bekannten Dichter bis dahin Adlige gewesen, die aufgrund politischer Umstände aus ihren Gemeindewesen vertrieben worden waren und durch ihr poetisches Talent ihren Lebensunterhalt sichern mußten, trat mit Simonides von Keos (557/6-468), seinem Neffen Bakchylides von Keos und Pindar von Theben (520-440) eine neue Generation professioneller Dichter auf. Pindar beispielsweise wurde von seinen Eltern zur musischen Ausbildung nach Athen geschickt, ein Beleg dafür, daß eine Karriere als Dichter offensichtlich lukrativ erschien, zumal der Bedarf nach Dichtung immer größer wurde und besonders die zu hohen Festen ausgetragenen Dichterwettbewerbe Ruhm und ein gutes Auskommen versprachen. Ein Markt für Dichter entstand und damit auch ein neues Selbstbewußtsein. So war es dem Sieger eines großen Dichterwettbewerbs daran gelegen, sein Werk schriftlich festgehalten und somit möglichst weit verbreitet zu sehen.
Der für die Dichter wichtigste Wettbewerb war der Dithyrambenagon, bei dem Chöre von bis zu 50 Personen mit lebhaften Gebärden und zu Flötenbegleitung im Wechselgesang Geschichten über die Taten und Leiden des Weingottes Dionysos und anderer Götter und Heroen vortrugen. Der Dithyrambus ist somit der Vorläufer des Dramas, das in den darauffolgenden Jahrhunderten die dominante Literaturform in Griechenland werden sollte. Bei diesen Gattungen trat der Dichter als Vortragender seiner Texte zurück.  

Die Professionalisierung der Schriftsteller und die Verbreitung der Buchkultur führte zu neuen, sorgfältig gearbeiteten literarischen Formen, wie zum Beispiel Epigramme, Kleinepen, Hirtengedichte, die mehr zur stillen Lektüre als zum öffentlichen Vortrag gedacht waren, weil sie höhere Ansprüche an die Leser stellten. Die „alexandrische Kultur“ entstand, deren Name von der gewaltigen Bibliothek in Alexandria, der wichtigsten der Antike, abgeleitet ist. „Alexandrisch“ bedeutet: Literatur oder Kunst, die sich an die gebildeten Kenner wendet, die die feinsten Anspielungen verstehen, und nicht mehr an ein breites Bürgerpublikum. Der Bildungsbetrieb – dessen Mittelpunkt die Bibliotheken waren - stellte das kulturelle Kraftzentrum der griechischen Welt auch nach der Eroberung durch die Römer dar und führte zu einer Überführung der griechischen Schreib- und Lesekultur in die römische Welt.

Thomas Böhm

 

Fußnoten:

1 Zu den Ausführungen über Lesungen im antiken Griechenland vgl. insbes. Martin Hose, Kleine griechische Literaturgeschichte, München: 2002.

2 Odyssee 1,351/2.

3 Gleichzeitig entwickelte die Polis aber mit der Rhetorik ein grundlegende System für Theorie und Technik der öffentlichen Rede als effektvolle Sprachgestaltung mit dem Ziel der überzeugenden Darstellung eines Standpunktes in den drei wesentlichen öffentlichen Situationen: der politischen Beratung, vor Gericht, bei Festen. Die Rhetorik war aufgrund ihres Potentials zur wirksamen, emotionalen Meinungsbeeinflussung schon in der Antike umstritten. Als Lehre der wohlgeordneten und wohlklingenden Ausformung der Gedanken blieb sie bis in den Barock eine Bildungsideal von Geistlichen und Gelehrten, bis sie in der Romantik als für ihre Formelhaftigkeit kritisiert wurde, die dem individuellen Ausdruck subjektiven Erlebens entgegenstand. Ihre größte Diskreditierung erlebte die Rhetorik schließlich durch die „Massenverführung“ der totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Diese skizzenhafte Geschichte der Rhetorik ist hinlänglich bekannt. Selten wird jedoch erwähnt, daß die Rhetorik auch die Begriffe und Kategorien zur Verfügung stellte, um die Schallformen der Sprache zu beschreiben: Melodie und Lautgebung, Tempo, Akzente und Pausen, Rhythmik, Metrik, etc. Begriffe und Kategorien, die nötig wären, um zum Beispiel den Vortrag eines Textes durch den Autor beschreiben zu können. Liegt also ein Mangel in der Durchdringung der Lesung an der mangelnden Kenntnis der Rhetorik?


 




 
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