Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß selbst bei den interessantesten Lesungen, wenn gute Autoren Relevantes über die Literatur, den Menschen, seine Kunst und Gesellschaft sagen, oder ihre davon handelnden Texte gekonnt vortragen, daß selbst dann stets jemand im Publikum schläft oder so aussieht, als stünde sie oder er kurz davor?
Die Größe der Veranstaltung spielt dabei keine Rolle zu spielen. Egal ob dunkeler, ausverkaufter Theatersaal oder erleuchtete Buchhandlung im erlauchtem Kreis einer Handvoll Besucher - eine oder einer tritt immer weg, obwohl, wie gesagt: Spannendes passiert.
Die einfachste Erklärung – „Da ist jemand hundemüde“ – sei nur deshalb erwähnt, weil – wenn sie zuträfe –belegt wäre, daß die Literatur immer noch attraktiv ist, denn sie zieht viele Menschen zu Lesungen, obwohl sie müde sind. So viele Müde, wie man sie in der Öffentlichkeit bestensfalls noch in Konzertsälen sieht.
Das Phänomen „Lesungsschlaf“
Überhaupt ist „Müdigkeit“ das falsche Wort. Es handelt sich beim Lesungsschlaf um ein Phänomen, mit dem sich die Literaturtheorie meines Wissens nach noch nicht befaßt hat. Aus verständlichen Gründen, denn der Lesungsschlaf ist ja ja zunächst kein Zeichen des Gelingens von literarischer Kommunikation; von Lesen und Verstehen, von Erkennen und Wahrnehmen. Sondern eine Abschweifung. Ich verdanke meine Aufmerksamkeit für diese Erfahrung der dänischen Lyrikerin Inger Christensen, die über ein Buch von Lewis Caroll sagte, es sei gut, „weil man beim Lesen so schön an anderes denken kann“.
So ist es auch bei Lesungen. Die Grundhaltung ist zunächst Konzentration. Wenn diese nachläßt – hoffentlich nicht, weil das Zuhören und Zuschauen sich nicht lohnt –, beginnen die Gedanken zu schweifen, sich frei zu bewegen, oft inspiriert durch ein Moment der Lesung, durch etwas Gesagtes, Beobachtetes. Diese Abschweifungen führen oft zu Ideen, neuen Gedanken, oder, wenn die Müdigkeit größer wird, zu absurden Mischungen von Traum und Gegenwart. Lesungen bieten aus vielen Gründen einen besonders großen Raum für solche Abschweifungen. Zum einen, weil es in ihnen selbst um Ideen und Sprache geht. Zum anderen, weil sie nicht „reizüberflutet“ sind und deshalb längere Gedankengänge ermöglichen. Mal führen diese Wege zurück in die Situation, mal führen sie ganz heraus. In den Schlaf. Und dann wird es besonders schön. Denn was für ein Einschlafen ist das, während man vorgelesen bekommt? Umgeben von Wörtern, von Gedanken. Wer es selbst noch nicht erlebt und aus Sorge um seinen Ruf als wacher Zeitgenosse auch nicht erleben möchte, dem sei der Anfang von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit empfohlen, der grade davon handelt: von den Welten, den Zeiten und Gedanken, zu denen man kurz vor dem Einschlafen Zugang hat.
Das Aufwachen in der Lesung
Bleibt schließlich noch das Aufwachen in der Lesung. Das Bewußtsein kehrt zurück, der Körper meldet sich mit dem Gefühl eines steifen Nackens, eines eingeschlafenen Fußes, von Speichel im Mundwinkel. Und während dieses Aufwachens wird gelesen, gesprochen. Man kommt zurück, erwacht in der Sprache. Ist verwirrt. Was geschah? Eine Wiedergeburt ausgelöst durch ein magisches Ritual? Das Erleben der Weltschöpfung durch das Wort? Oder doch – nach Edgar Allan Poe – das übliche Hinübergleiten von einem Traum namens Wirklichkeit in den anderen Traum namens Literatur.
Thomas Böhm