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Ist neues Dichterwort nicht mehr stark, nicht mehr sieghaft genug, so daß es der persönlichen Gegenwart seines Urhebers bedarf, um sein Gewicht zu ergänzen? Oder locken wir die Sinner und Bildner nur aus Neugierde herbei? Verbirgt sich in uns ein Trieb, ihn geheimnislos zu machen, ihn von sich selber wegzulenken?

Hans Carossa

Kurzeck, Peter


In Peter Kurzecks Buch Ein Kirschkern im März findet sich nachstehende Beschreibung einer Lesung, die wir mit freundlicher Genehmigung des Stroemfeld Verlags abdrucken.


Tucholsky-Buchhandlung, Offenbach. Eine Lesung am 28. März. Noch von der Abstellkammer aus den Termin. Im Januar. Telefonisch. Dann noch zweimal angerufen, damit es auch dabei bleibt und ich daran glauben kann, daß es dabei bleibt. Zum Glück Ortstarif. Erst lang gedacht, der kommt nie, der 28. März. Und dann ist er da. Ein Mittwoch. Und früh am Nachmittag schon machst du dich auf den Weg. Lieber gleich mittags. Beide Bücher mit und in einer zuverlässigen Plastiktüte unverlierbar mein Manuskript. Zu Fuß zum Hauptbahnhof und mit der S-Bahn nach Offenbach (alle Ausgaben und was du auf Schritt und Tritt einsparst, sorgfältig im Kopf verbuchen!). Letzten Sommer einmal, Sibylle und ich. Carina mit dem Kinderladen im Vogelsberg. Das erste Mal, daß sie allein anderswo über Nacht. Ohne uns.Und was wird mit uns? Sind so lang nicht mehr einen ganzen Tag und dann auch noch über Nacht miteinander allein gewesen, Sibylle und ich. Sibylle nach der Arbeit, ich direkt aus dem Schreiben heraus: treffen uns in der Stadt und fahren nach Offenbach. Es kostet nicht viel und ist trotzdem woanders. Heiß und hell ein Sommertag in der Stadt. Ein Stadtsommer, der schon anfängt, zu gehen. Brot mit, Joghurt, ein halbes Mittagessen oder vom Bäcker bloß schnell ein eiliges Bäckertütchen mit Rosinenbrötchen und Apfeltasche? Buttermilch, Wurst und Brot mit, zwei Tomaten und dazu noch ein Bäckertütchen und beide von allem die Hälfte. Und sind bis zum Abend geblieben. Und deshalb muß ich jetzt in Offenbach den ganzen Nachmittag nach uns suchen. Nach uns und der Zeit und nach unseren Spuren. Und nach diesem Tag und nach dem vergangenen Sommer (wie kann er vorbei sein?). Vom Bahnhof in die Innenstadt. Eine Straße wie gleich nach dem Krieg und heißt auch noch Kaiserstraße. Amtsgericht, Post, eine neue Fußgängerzone. Kaufhäuser, Fußgänger, Jeans, Schuhgeschäfte, ein Aldi, ein Tchibo, drei Arbeitslose. Vor jedem Ladeneingang drei Arbeitslose. Und große winterliche Betonblumenkästen. Paare, Mütter, die Zeit ruckt, ein Kind weint. Baustellen, Zeitungen, Zigarettenreklamen. In allen Fußgängerzonen weinen die Kinder. Ich hätte gern ein Gesicht mir gemerkt. Fußgänger, Arbeitslose, eilige Fußgänger mit Einkaufstaschen und Plastiktüten. Bushaltestellen. Eine Straßenbahn klingelt. Wo gehts hier zum Parkhaus? Eine Imbißbude, ein Schnellrestaurant und noch eine Imbißbude. An jeder Ecke ein Schnellrestaurant und eine Imbißbude. Und jetzt kauen alle und müssen sich ducken und haben erst recht keine Hand frei. Und haben es immer noch eilig. Vom Vorjahr ein Eiscafe. Ich kann uns noch reden hören mit Sommernachmittagsstimmen. Ein Bäckerladen und steht da und weiß nicht gleich, ob er mich noch kennen soll? Zwei Eiscafes. Eins noch vom Winter her zu (Pelzmäntel-Sonderverkauf!), aber in dem anderen mußt du unbedingt einen Espresso! Vorher noch die abgelegene Sommernachmittagsseitenstraße am Rand der Fußgängerzone und weit hinten in deinem Gedächtnis wiederfinden! Und in Licht und Schatten einen stillen Hinterhof aus dem vorigen Sommer. Alle Fenster offen. Alt und verwittert die Mauern und ein großer grüner Baum steht im Hof. Ein Lied spielt und Vögel singen. War es hier? Sind wir das gewesen? Wo ist der Sommer hin? Ein armenisch-griechisch-türkischer Laden mit einer bunten Markise und Obstkisten davor. Lebensmittel und Obst. Ein Änderungsschneider. Haushaltsauflösungen. Alte Möbel. Hausrat. Geschirr. Eine Stehlampe, beinah wie die Stehlampe, die wir einmal in einem anderen Gebrauchtmöbelladen in Frankfurt gekauft haben, Sibylle und ich. Ein bißchen zu teuer bezahlt und froh heimgetragen. Feinkost. Italienische Spezialitäten. Ein billiger Modeladen und in allen Farben die übriggebliebenen Sommerkleider davor und wie heiß es war. Vögel. Ein Sommertag. Alle Fenster offen. Die Türen offen. Eine Eckkneipe, Schnapsbüdchen, eine Eisenbahnunterführung und die Sonne, das Licht und die Penner von damals. Mußten unser Geld zählen und zweimal einen Espresso, Sonderetat, und im Kopf die Begründung dafür. Ich seh uns jetzt noch im Eiscafespiegel sitzen. Dann allein und wieder in den Nachwinter zurück und weiter auf den eigenen Spuren durch Offenbach und von Uhr zu Uhr auf die Uhrzeit achten. Erst den Nachmittag lang, dann in der Dämmerung und dann in den Abend hinein. Immer nochmal und nochmal den ganzen Weg. Und dann wird es Zeit. Nacht, Wind, fremde Seitenstraßen. Im Nachwinter. Zum Glück kein Regen oder wenn, dann nur kurz (du hast den Schirm mit, aber machst ihn nicht auf). An diesem Tag den Schirm zweimal liegengelassen, aber es jedesmal gleich gemerkt und ihn immer wieder zurückbekommen, ein Glückstag also.


Bis dahin nur höchstens drei oder vier Lesungen insgesamt und davon die erste im Suff noch. Vor mehr als fünf Jahren. Bevor noch mein erstes Buch erschien. Wenn einer nur sagt: Sie sind also der Autor? Gleich wird mir heiß! Nur weg! Du kannst nicht mehr schlucken, mußt unverzüglich auf und davon! Nur weg hier! Entstreben! Und  jetzt? Am liebsten jetzt jemand anders und sowieso ganz woanders. Erst noch Carina anrufen und dann im letzten Moment ein paar fahrige Umwege, schnell! Sowieso verlauf ich mich gern! In die Nacht hinein und auch schon ein bißchen zu spät dran. Vorher den Weg auf dem Stadtplan auswendig gelernt. Alles richtig! Und dann kurz vor dem Ziel fast doch mich verirrt, fast nicht hingefunden. Schon zu spät? Keine Uhr mit! Haustüren. Ein Bäcker, ein Metzger und beide schon zu. Ein Friseur, bei dem noch geputzt wird. Eine Feierabendkneipe. Der Bahndamm nicht weit. Einen Zug hört man fahren. Eine Frau, ein Mädchen vor mir über die Straße. Parka und Jeans und eilige Stiefel. Noch als Schatten unter der nächsten Lampe durch und dann weg für immer. Betten, Gardinen, ein Schrank. Hellerleuchtet ein Möbelschaufenster, in dem man auch wohnen könnte. Dann wieder dunkle Straßen. Du hast keine Uhr mit. Du bist schon zu spät und weißt nicht die Richtung. Gebrauchtwagen, eine Tankstelle, eine Bushaltestelle. Nach Nachtluft und Feuchtigkeit, nach Nacht und Heizöl und Keller riecht es. Fremde Haustüren. Fremd die Zeit und im Dunkeln ein fremder Wind. Beeil dich! Schon außer Atem. Fremd die Straßen und haben sich in Bewegung gesetzt, ziehen immer schneller an dir vorbei. Sollst du rennen? Keuchend, ein Zug, der sich verirrt hat. Wie mein Herz klopft. Die Augen voll Nacht und Wind. Alles flimmert. Die Augen fangen zu tränen an. Nur schnell-schnell, aber welche Richtung? Wohin? Und gerade wenn du denkst, du findest es nicht, du kommst nie an und auch den Rückweg wirst du nicht mehr finden - gerade da kommt dir dein Ziel entgegen. Der Laden und Licht in den Fenstern. Das richtige Haus! Eine offene Tür! Ein Glückstag also! Du kommst und sie warten schon! Sollst du fliehen? Eine Tarnkappe? Unsichtbar? Im letzten Moment sagst du dir: Geh hin! Sorg dich um gar nix! Als ob du nicht zuständig für dich selbst! Laß dich tragen! Warum denn zittern? Die wirkliche Arbeit, die Arbeit, vor der man zittern muß, ist doch das Schreiben! Denk an dein Kind und das angefangene Buch! Das Geld steht dir zu! Allein schon im voraus die Ausgaben! Als Spesen drei Ortsgespräche, die Fahrt mit  der S-Bahn und zwei Espresso! Und dazu noch die Rückfahrt! Du gehst hinein! Du kriegst einen Sitzplatz! Du liest, du schweigst, du sagst, was dir einfällt! Das vereinbarte Honorar. Wie vereinbart. Du kannst die ganze Zeit von dem angefangenen Buch und von dir und der Zeit reden. Schriftsteller und ein Buch über das Dorf meiner Kindheit. Erzähl das Dorf! Als Schriftsteller zuständig für die Vielfalt der Welt. Besser du hättest dir vorher alles ganz genau aufgeschrieben, Wort für Wort und dazu die Regieanweisungen, aber jetzt muß es auch so gehen! Solang sie dir glauben, daß du es selbst bist, solang sie dir das nur glauben, kann dir gar nix passieren!


Eine Lesung. Eine Lesung und wie es geht. Die Autorenlesung. Einen Stuhl zum Sitzen. Und nach Möglichkeit ein Pult, einen Tisch davor. Zum Aufstützen und als Schutz. Zumindest symbolisch. Wenigstens eine Art Beistelltischchen. Stuhl, Tisch, Lampe. Wo ist der Autor? Der Autor mit einer Plastiktüte. Hat die Begrüßung schon stattgefunden? Hat er gut hierhergefunden? Noch eben rechtzeitig, also kann man darüber sprechen, daß er noch eben rechtzeitig. Aus dem Stegreif. Als Schriftsteller glaubt er an Umwege. Und ist ja auch nicht zum erstenmal hier in Offenbach. In Frankfurt liest heute der Hrabal, sagt einer. Soll der Autor jetzt sagen: Da wär ich auch gern hin! Und die Wohmann, sagt einer. Es klingt wie ein Vorwurf. Hat die Begrüßung schon stattgefunden? Die Buchhandlung ein Kollektiv. Einer heißt Lutz. Mit ihm hat der Autor mehrfach schon telefonisch. Kann man gut sagen, wir haben ja  schon miteinander telefoniert! Schon öfter! Und räuspert sich und hat ein Gesprächsthema. Und kann sich gleich als weitläufig geselliger Mensch erweisen. War die Begrüßung brauchbar oder soll man noch einen Durchlauf? Lutz heißt der Buchhändler. Aus Thüringen. Mit ihm schon im Januar den Termin. Und hast ihn jetzt gleich erkannt. Als ob du ihn damals von der Abstellkammer aus beim Telefonieren schon vor dir gesehen hättest. Autorenlesung. Muß der Autor sich ausweisen? Ausweisen muß er sich nicht. Man sieht es ihm an. Und außerdem ja die Plastiktüte mit Büchern und Manuskript als Beleg. Eine linke Buchhandlung. Ein Kollektiv. Also wird du gesagt. Nimmt folglich auch keiner Anstoß an der schäbigen alten Wildlederjacke des Autors. Weil das Futter zerrissen und ausgefranst und darunter Pullover und Hemd auch schon alt und verbraucht, deshalb behält er die Jacke doch lieber an. Ruhige sanfte Bewegungen, um sich und die Nähte zu schonen. Warum Tucholsky? fragst du. Ja, sagen sie, da haben wir abgestimmt. Mit fünfzehn in Jena, sagt einer, Tucholsky gelesen. Und da hab ich gemerkt, der hat recht! Inzwischen im Nebenraum. Ein Saal? Eine Kleinkunstbühne? Das Hinterzimmer einer Eckkneipe? Der Autor weiß nicht, wie sie alle hierhergekommen sind. Ihm ist, er sei vor langer Zeit einmal mit großen Schritten durch eine windige finstere Nacht - war er da allein? Er gäbe jetzt viel darum, wenn er weiter mit großen Schritten allein durch die Nacht gehen könnte! Eine Lesung. Stuhl, Tisch, Lampe. Geht es auch ohne Tisch? Lieber mit! Ohne sitzt man so ungeschützt!! Und auch noch stundenlang! Der Tisch steht. Die Lampe leuchtet. Der Autor sieht den leeren für ihn bestimmten Stuhl und ihm ist, als ob er sich verpaßt hätte. Als ob er nicht zu sich kann. Braucht er ein Mikrofon? Ein Mikrofon braucht er nicht. Wasser? Einen Schluck, ein Glas, eine Flasche? Zum Trinken! Mineralwasser, falls das keine zu großen Umstände. Wenn möglich, mit wenig Kohlensäure. Aber muß auch nicht, kann irgendein Wasser. Geht auch ganz ohne. Aber ja. Warum nicht? Wie in der Wüste. Wo ist jetzt der Autor? Steht ins Leere. Und wo ist die Plastiktüte? Hält er noch in der Hand. Mit Zuversicht. Hat auch seine Jacke anbehalten. Er lehnt die volle Tüte ans Tischbein, da fängt sie zu rutschen an. Der Tisch wackelt. Die Lampe kriegt einen Schreck. Der Autor mit heißem Kopf. Er steht, man hört einen Zug fahren. An der Wand ein Gesims, das aussieht, als müßten da von Rechts wegen Vereinspokale aufgereiht sein. Dem stolzen Sieger. Landesnachwuchswettbewerb 1957. Dritter Preis. Vereinspokale in Kupfer und Silber und Gold. Mit Wappen und Kronen und ehrenvollen Inschriften. Und müßten leuchten und stehen und funkeln, aber es sind keine da! Nur Wandlämpchen und das leere Gesims. Die Plastiktüte auspacken! Vor aller Augen. Zwei Bücher, kein Brot, keine Flasche und ein Manuskript. Und Zigaretten auf Vorrat, Gauloises und Gitanes. Und was ist das für eine Tüte? Gelb und weiß, vom Penny. Er hätte auch eine Plus-Tüte nehmen können. Die sind blau und orange und genauso praktisch, aber jetzt hat er die Penny-Tüte. Wohin damit? Erst in den Händen zu einer Kugel die Tüte, dann doch lieber sorgsam zusammenfalten. Kann man damit knistern? Soll er sie die ganze Zeit unauffällig in der Hand? Und den Schirm? Am liebsten den Schirm nie mehr loslassen! Mit beiden Händen nicht loslassen! Nur ja nicht vergessen den Schirm! Wo sind die Pokale jetzt? Und was ist aus den seinerzeitigen Siegern geworden?


Stuhl, Tisch, Lampe. Auf dem Tisch die beiden Bücher und das Manuskript. Extra heute Morgen aus dem Leitz-Ordner in eine andere Mappe das Manuskript, damit man es besser mitnehmen kann. Zigaretten, Wasserflasche und Glas. Schon eingeschenkt. Die Lampe brennt. Der Autor sieht seinen leeren Stuhl. So hell das Wasser im Glas. Und wie du dir jetzt selbst fehlst! In seiner Vorstellung immer noch vor der Tür der Buchhandlung hin und her. Nicht direkt vor dem Eingang, mehr dort drüben. Im Dunkeln, am Rand. Und muß immer weiter mit sich selbst verhandeln, ob er hineingehen soll oder nicht? Und dabei ist ihm, als ob dieser heutige Abend jahrelang her sei (in weiter Ferne sieht er sich und den Tisch und den leeren Stuhl). Als ob er den gleichen Tag immer wieder erlebt. Gesichter, Stuhlreihen, eine Lesung. War ein Honorar vereinbart? Wie geht eine Lesung? Sind Leute gekommen? Ja, es sind Leute gekommen. Nein, danke, nein, keinen Wein! Soll man anfangen? Noch nicht, sagen die Buchhändler. Noch fünf Minuten. Der Autor hat keine Uhr mit und muß immer wieder zu dem leeren Stuhl hin mit seinem Blick. Blitzlicht! Einer fotografiert! Und fragt dann, ob es stört, wenn er fotografiert? Nein, es stört nicht! Auch nicht dann bei der Lesung? Nein, bei der Lesung dann auch nicht! Nichts stört! Jetzt! Die Buchhändler haben genickt. Der Autor nickt sich selbst zu. Moment noch! Im Namen des Kollektivs begrüßt ein Buchhändler Autor und Publikum. War das nicht schon einmal? Jetzt also! Der Autor will anfangen, da kommt noch eine Gruppe von Leuten. Drei-vier-fünf - erst vor der Tür ihre Stimmen und dann kühl die Nachtluft mit ihnen herein. Gleich ist dem Autor, als hätte er die ganze Zeit gewußt, daß sie noch kommen. Als hätte er sie gesehen, wie sie immer näher kommen, auf ihrem Weg durch die Nacht. Als ob er sie kennt. Wie geht eine Lesung? Falls der Autor ein Konzept hat, schmeißt er im letzten Moment schnell nochmal alles um. Sicherheitshalber. Und jetzt fang an! Lesen! Eine Lesung! Erst aus dem Buch und dann aus dem Manuskript. Oder hat er gleich mit dem Manuskript angefangen? Das weiß er schon nicht mehr. Er liest. Kettenraucher. Jemand bringt einen Aschenbecher (und wird wieder unsichtbar). Immer eine an der andern anzünden. Will auch gern Wasser trinken. Nimmt das Glas und führt es zum Mund - und muß es dann doch jedesmal wieder wegstellen, weil er ja liest. Nicht schon genug? fragt er ein paarmal. Nein, sie sagen, sie wollen noch mehr. Publikum und Kollektiv. Die ganze Zeit denkt er daran, was jeder einzelne aus dem Publikum an diesem unwiederbringlichen heutigen Abend stattdessen alles hätte tun können. Und muß es sich vorstellen. In allen Einzelheiten. Nicht nur das Publikum, auch die Buchhändler. Und sogar er selbst. Und das quält ihn. Sogar Angehörige und Freunde, die nicht mitkamen, sind ja betroffen davon. Ein einziger Abend und soviele Menschen hineinverstrickt. Und muß jeder sehen, wie es dann weitergeht mit seinem Leben. Wie er damit zurechtkommt. Man hört einen Zug fahren. Immer wieder hört man einen Zug fahren. Und manchmal den Wind. Manchmal Stimmen aus der Gastwirtschaft oder von der Straße herein. Oder sind es die Stimmen in deinem Gedächtnis? Der Autor liest. Die Lampe brennt und ihm ist, als ob der Saal sich der Nacht geöffnet hat. Die Nacht sieht dem Autor beim Lesen zu. Ohne aufzublicken sieht er die Nacht um sich her. Weit im Westen den Rhein und den Taunus und davor  Frankfurt und Offenbach. Viele Lichter. Und in weitem Bogen den Main. Züge fahren. Flugzeuge in der Nacht. Hier sitzt er selbst, sitzt und liest. Schon am Rand. Bahngelände. Die Eisenbahn, Fabriken, Lagerhallen und Güterschuppen. Und zum Spessart hin werden die Lichter spärlicher. Wie ein verzweigter Sternenhimmel die Stadt. Milchstraßen, das Schauspielhaus und die Alte Oper. Sind die Kinos schon aus? Dort sitzt der Hrabal und hat eine Lampe und liest. Ein Stück weiter die Wohmann. Nicht weit der Vogelsberg und die Rhön. Da ist es still. In der Rhön ist es jetzt um diese Zeit schon spät. Schon viel später als hier in der Stadt. Und dort, siehst du, geht es nach Staufenberg. Nachtstraßen. Die Autobahn. Nächtliche Landstraßen. Manche naß. Auf den Wiesen die Apfelbäume noch wie im Winter und das Gras Wintergras. Nach Staufenberg geht es bergauf. Der Autor sieht alles vor sich, spürt jede Einzelheit wie in sich drin. Kein Saal, nur das Hinterzimmer einer Eckkneipe. Der Autor liest. Beim Lesen, wenn er nur lang genug liest, vergißt er alles. Sogar der Schmerz läßt dann nach. Du liest und der Schmerz ist nur noch wie die Erinnerung an den Schmerz. Der Autor liest zum erstenmal aus dem Manuskript. Er liest und dabei kommt ihm vor, daß er sich das alles gerade erst ausdenkt. Als ob es erst jetzt beim Lesen entsteht.


So sitzt er und liest und vergißt dabei Zeit und Welt und sich selbst. Auch keine Uhr mit. Und behält dennoch in jedem Augenblick Ablauf und Dauer des Abends im Auge oder sagt sich zumindest, er sollte es tun. Ein Programm. Sieht weithin die Nacht um sich her. All seine Wege seit heute Mittag und vorher jeden Tag in den März hinein und davor durch den langen Winter. Jeden Schritt aus seinen sieben Frankfurter Jahren. Sieht ohne aufzublicken (beim Lesen kann er nicht aufblicken!) die Gesichter der Zuhörer. Und die Wege, die sie gekommen sind. Sitzt und liest und geht dabei in Gedanken auf Staufenberg zu (nach Staufenberg geht es bergauf!). Lang gelesen, dann aufgehört. Man muß auch aufhören können! Und dann wie schiffbrüchig, wie auf einem schlingernden Floß. Schnell ein Glas Wasser und dann gleich noch ein zweites! Am liebsten ist ihm, wenn die Zuhörer nach der Lesung wie Holzklötze dasitzen. Stumm. Verzaubert. Holzklötze oder Felsklumpen. Muß man die Hand heben, muß ihnen zunicken, um sie zu erlösen! Schnell noch ein Glas Wasser! Eine Diskussion? Fragen an den Autor? Jetzt können Getränke bestellt werden. Wirt und Personal haben schon bei der Tür gewartet. Jetzt dürfen auch die Zuhörer wieder husten und rauchen. Erst die Lesung, knapp eine Stunde. Und dann zu den ersten Fragen als Autor gleich ins Erzählen geraten und gerät immer tiefer hinein. Deshalb wird man ja Schriftsteller, weil man Fragen nicht einfach mit ja oder nein beantworten kann. Sprich von der Zeit, als hättest du jederzeit Zeit. Zeit genug. Sprich solang von der Zeit, bis die Zeit ein Einsehen hat. Nein, danke. Nein, keinen Wein! Erst gelesen und dann erzählt. Mehr erzählt, als gelesen! Aufgewachsen in einem Dorf, in dem die Menschen mit Fremden nicht reden konnten. Dort auch fremd, das bleibt. So wird man Schriftsteller. Drei Stunden ohne Pause geredet. Nämlich sonst eher still, sagst du dann am Ende des Abends zu den schweigsamen Buchhändlern. Ein stiller Mensch. Also ich. Sonst oft tagelang nicht ein einziges Wort - und jetzt gleich soviel auf einmal. Und auch noch vergessen, darauf zu achten, was ich sage. Hundert Mark oder ungefähr hundert Mark als Honorar vereinbart, eine kleine linke Buchhandlung, ein Kollektiv, und jetzt geben sie dir hundertsechzig. Wollte ja eigentlich aus dem schwarzen Buch, sagst du. Buchhändler wollen immer, daß man aus einem fertigen Buch liest. Dein Geld hast du dir schon verdient heute Abend, sagen sie und stehen als Kollektiv mit lächelnden Gesichtern um dich und das Geld herum. Vielleicht nächstes Jahr nochmal eine Lesung. Oder schon im Herbst. Willst du jetzt ein Glas Wein? (Wenn man als Autor dem Suff ein bißchen zugeneigt ist, wenigstens ab und zu, das schätzen die Zeitgenossen!) Vor fünf Jahren zu trinken aufgehört, sagst du. Vor fünf Jahren und zweieinhalb Wochen. Fährt jetzt noch eine S-Bahn? Kannst gern mit mir, sagt einer, der zum Kollektiv gehört. Noch jung. Ein freundliches Gesicht. Ich bin mit dem Auto. Die beiden Bücher und das Manuskript einpacken. Die restlichen Zigaretten. Den Regenschirm nicht vergessen. Schon bei der Tür. Das Geld in der Tasche. Zuletzt muß der Autor nochmal seinen leeren Stuhl ansehen. Stuhl, Tisch und Lampe. So also sieht es aus, wenn du nicht da bist. Ein paar Schritte durch die Nacht. Nach Keller, nach Kohlenrauch, Heizöl und Erde riecht es. Die Vorgärten rauschen. Mietshäuser, hohe dunkle Häuser den Bahndamm entlang. Nacht und die Wolken ziehen. Ich bin der Georg, sagt der, der dich mitnimmt. Ich steh gleich dort drüben. Und meint sein Auto. Ein kleiner Fiat. Der kennt mich, sagt er. Das Auto macht beim Anfahren einen Sprung. Langsam durch Offenbach. Dann den Main entlang. Lichter, die Nachtstadt, alles genauso, wie du es beim Lesen vor dir gesehen hast. Nacht und der Himmel voller Flugzeuge. Aus Bayern, sagt der Fahrer und fährt noch langsamer. Als Kind, sagt er, hab ich ein Pferd gehabt. Als einziges Kind im Dorf hab ich ein eigenes Pferd gehabt. Kein Pony, ein Pferd! Bald drei Monate bin ich jetzt schon in Frankfurt. Jedesmal wenn er schaltet, ruckt das Auto und hoppelt dann gleich noch eifriger. Er fährt und sitzt beim Fahren wie in einem Cafehaus, bloß enger. Kein Streifenwagen. Nicht ein einziger Polizist. Am liebsten, sagt er, tät ich einen Verlag anfangen. Eine Freundin von mir, sagt er, kennt dich. Die Ute Schendel, die Fotografin. Sie hat dich vor kurzem erst fotografiert. Letzten Sommer vor einem Jahr, sagte ich. Eins von den Fotos ist hier auf dem schwarzen Buch. Kannst du mich am Opernplatz rauslassen? Ich fahr ins Nordend, sagt er, ich kann dich bis vor deine Haustür fahren. Neinnein, sagte ich. Lieber hier! Die Hochstraße bei  der Freßgass. Grün die Ampel. Er bremst, das Auto macht einen Knicks.


Gleich Mitternacht oder Mitternacht eben vorbei. Allein in der Stille. Mein Heimweg. Die Zeit, die mir bleibt. Zwischen Hochstraße und Opernplatz eine vornehme Häuserzeile und gerade hier muß ich immer an einen langen Sommer in Wien denken. Weit zurück. Wien war die erste Großstadt in meinem Leben. Über den Opernplatz. Das Pferd mit Flügeln. Die Alte Oper beleuchtet. Der Brunnen abgestellt (aber muß in meinem Gedächtnis immerfort weiter rauschen!). Leer der Platz. Die Laternen gehen im Reigen. Nur vereinzelt späte Fußgänger noch. Paare und Gruppen von Paaren. Im Theater gewesen, im Kino. Oper, Schauspielhaus, ein Konzert. Kommen vom Essen. Haben Gäste oder sind als Besuch zu Besuch. Erst essen und dann ins Kino und dann noch ein letztes Glas. Und alle jetzt auf dem Heimweg. Und lassen sich Zeit auf dem Heimweg. Soll man an die Firma, soll man schon an den Sommer denken? Ein Taxi? Ein paar Schritte zu Fuß? Es ist gar nicht kalt. Seit sieben Jahren in Frankfurt und jetzt gehst du um Mitternacht über den Opernplatz wie ein richtiger Frankfurter Bürger, der ein geregeltes Leben alle Tage und geht hier in Ruhe und zu seinem Wohlgefallen. Zu Recht auf der Welt. Und gleich mein Schreck, ich könnte etwas vergessen haben! Schirm, Plastiktüte, Gedanken, Gedächtnis - vergessen-verloren-veruntreut und weg für immer! Erst jäh der Schreck wie ein Abgrund, ein Loch neben mir! Und wird unverzüglich entwertet, der Schreck! Ungültig! Wird annulliert! Rückwirkend! Alle Schrecken! Und ruhig weiter. Über den Opernplatz und den Reuterweg hinauf. In deiner Sorglosigkeit und weil du sonst nie da gehst, jetzt am Rand des Rothschildparks entlang. Kaum noch Wind. Nur gerade ein Fächeln, damit du spürst, wie weich hier in der Nacht heut die Luft und wie leicht. Und damit du aufmerksam bleibst. Nach März und nach Nacht und nach Erde riecht es. Du gehst unter den Bäumen, als ob du jetzt schon auf deinem Weg die nächtlichen Laubschatten künftiger Sommer - du kannst sie sehen, sogar auf dir spüren die künftigen Sommernachtschatten, während du unter den Bäumen durchgehst. Bald schlafen dann. Und morgen früh gehst du fröhlich einkaufen. Müd und ruhig jetzt. Seit der Trennung, seit die neue Zeitrechnung anfing, durch den Winter gerannt und dann jeden Tag in den März hinein. Beim Lesen hast du nicht aufgeblickt, aber danach ja erzählt, mehr erzählt als gelesen. Und jetzt kannst du immer noch die Gesichter der Zuhörer vor dir sehen. Wie auf Blitzlichtfotografien. Und auch Bilder vom vergangenen Tag und der nächtlichen Rückfahrt. Mehr Honorar als vereinbart und noch die Rückfahrt gratis! Hell vor mir her der Weg. Wie Schatten die Hecken und Bäume. Eine hohe Tanne. Ein Türmchen aus dunklem Gestein. Und stehen wie Zeugen. Blumen im Gras. Leicht der Wind durch das Gras. Die Vögel schlafen. Die Äste und Zweige regen sich sacht. Ob Carina schläft? Und Sibylle? Hat wochenlang Nacht für Nacht Gedanken und Bücher eingepackt. Dann angefangen, die Wohnung umzuräumen. Ich blieb stehen, um im Dunkeln das Geld zu zählen. Honorar. Das Geld immer noch einmal zählen! Die Scheine fangen zu flüstern an. Selbst auch flüstern, eine Geldzählmaschine ohne Aufsicht und Arbeitslicht, aber zählt! Jetzt mußt du dir Sorgen darum, ob die Buchhandlung sich solche Ausgaben überhaupt leisten kann. Du nix jetzt verlieren dein Geld, sagst du dir und mußt ein paar Schritte vor. Den Rasen betreten und dir und den Bäumen eine Ansprache. Nicht lang! Nur ein paar wenige einfache Worte, liebe Zeitgenossen und Mitgäste, sagst du zu den Bäumen. Nur keine Umstände, sagst du zu ihnen, doch die Bäume stehen so still und andächtig da. Die Hecken auch. Bereit, dir die ganze Nacht zuzuhören. Sollst du die Bänke auch einbeziehen? Der Wind legt sich vor  deinen Füßen nieder. Gern wärst du barfuß. Sogar die Blumen stehen und horchen. Vom Gartenamt städtische Krokusse. Nicht auch freiberufliche Gänseblümchen im Gras? Bald Sommer, sagte ich, verehrte Eichen und Buchen und Gänseblümchen. Erst Frühling, dann Sommer. Es ist spät. Ein andermal mehr davon. Ich danke Ihnen für Ihre heutige herzliche Aufmerksamkeit. Du willst deine Schuhe wieder anziehen, aber hast sie noch an. Vom Reuterweg her das Licht und der Autoverkehr. Weniger Autos jetzt in der Nacht und dafür umso schneller. Wie der Himmel glüht über der Stadt. Heimgehen. Der Park. So reglos und hell und erwartungsvoll liegen die Wege vor dir, daß du gleich nochmal stehenbleiben mußt. Damit du dir merkst, wie reglos und hell jetzt in der Nacht jeder Weg vor dir liegt. Als ob es dein Leben ist, das nach dir ruft und nicht aufhört zu rufen, so greift dir der Anblick ans Herz.


Müd und angespannt. Nach der Lesung soviel gesprochen. Und deshalb sind sie leiser jetzt. Zumindest zeitweilig. Leiser und weniger dringlich, die Stimmen in deinem Kopf. Und die heutigen Bilder nach und nach auch schon weniger grell. Müssen immer noch aufzucken unter deinen Lidern, immer nochmal. Aber in immer größeren Abständen schon. Und werden jetzt weggeräumt. Gut verwahrt. Die Bäume rauschen, der Wind rührt dich an. Und dann ist es still. Du merkst dir die Stille, du nimmst sie mit, du hebst sie dir auf. Heimgehen. Heimgehen als Gast. Und dich schon auf die einsame letzte Stunde vor dem Einschlafen freuen. Obstkorb, Blumen, Lämpchen beim Bett und ein ganzes Dachgeschoß für mich allein. Reich fühlst du dich. Sicher. Vielleicht ist bei deinen Gastgebern noch Licht und sie geben dir ein Glas Milch. Am ersten März eingezogen. Heute sind es vier Wochen. Es ist ja nicht so, daß du ihnen aus dem Weg gehen mußt. Wollen bald mit ihnen in ihr Haus auf dem Land, Carina und ich. Eine Einladung. Demnächst, sagen sie, ein Wochenende. Eins von den nächsten. Denken also nicht, ich müßte längst weg sein, längst ausgezogen. Längst auf und davon. Ein Glas Milch und noch eine Weile mit ihnen in der Küche. Ich Milch und sie Wein und ihnen meinen Tag erzählen, die Lesung, den langen Abend. Mehr erzählt, als gelesen. Märchenerzähler, mündlich, wär ich auch gern geworden. Was heißt denn Märchen? Es ist ja immer das eigene Leben. So geht er und träumt sich selbst.


Peter Kurzeck wurde 2004 mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet. In der Urteilsbegründung hieß es:
"Der Preis der Literaturhäuser gilt auch dieser Faszination des Vortrags. Der leicht zaudernde, gedehnte Ton und das Staunen in seiner Stimme verwandeln die Lesungen in einen langen inneren Monolog, und die Zuhörer tauchen ein in eine wiedergefundene Zeit. Kurzeck liest und die Zuhörer erleben die Vervollkommnung einer süßen Obsession. Und selten ist ein Vorleser so identisch mit seinem Text."


Das Hörbuch Stuhl, Tisch, Lampe, das u.a. die hier abgedruckte Schilderung einer Lesung enthält, ist bei supposé erschienen. Unter dem angegebenen Link gibt es eine Hörprobe von Kurzeck. 






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