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Ist neues Dichterwort nicht mehr stark, nicht mehr sieghaft genug, so daß es der persönlichen Gegenwart seines Urhebers bedarf, um sein Gewicht zu ergänzen? Oder locken wir die Sinner und Bildner nur aus Neugierde herbei? Verbirgt sich in uns ein Trieb, ihn geheimnislos zu machen, ihn von sich selber wegzulenken?

Hans Carossa


Lentz, Michael








Wirkung durch Wort, Nichtwort und Außenbelebung






Gespräch mit Michael Lentz, dem Träger des Preises der Literaturhäuser 2005, über das Schweigen, das Umblättern und das Provokationspotential der Performance.

Thomas Böhm: Du hast die Lesungen aus Deinem Gedichtband Aller Ding begonnen, indem Du den Vers: „ich habe mich nun lange mit dem tod beschäftigt“ gelesen und dann lange geschwiegen hast. Was erlebt man, wenn man eigentlich lesen soll und stattdessen schweigt?
Michael Lentz: Man spürt den Impuls, weiterlesen zu wollen/müssen. Das Schweigen ist aber integraler Bestandteil des Gedichts. Es sind sozusagen die Strophen des Gedichts. Die Buchseite ist, bis zu der das Schweigen unterbrechenden Schlußzeile „und bin zu keinem schluss gekommen“, leer: carte blanche. Um die eigene Irritation aufzuheben, zähle ich schweigend langsam bis 60. Das Schweigen muß ein Maß haben. Ist Schweigen peinlich? Das überlegt man sich dann. Aber was soll nach so einem Satz wie „ich habe mich nun lange mit dem tod beschäftigt“, der ja so etwas wie eine größtmögliche Ankündigung ist, noch kommen können? In der Geschichte der Poesie wird so viel über das Schweigen gesprochen. Also schweigen. Sprichwörtlich. Nämlich tatsächlich.


Wolltest Du durch das Schweigen das Publikum provozieren, etwas zu sagen? Um es von Anfang an aus der Rolle des passiven Zuhörers zu locken?
Nein. Schweigen hat eine Aura. Ich hätte es schade gefunden, wenn das Publikum etwas gesagt hätte. Man schweigt ja nie tatsächlich. Im Kopf redet es. Nachhaltig in Erinnerung ist mir, daß ein Mann nach ca. 30 Sekunden Schweigen aufgestanden und gegangen ist. Böse geschaut hat der nicht. Wiedergekommen ist der auch nicht. Er hat wohl schon alles erfahren, was er wissen wollte.


Welcher Impuls hat jeweils dazu geführt, das Schweigen zu beenden?
Irgendwann ist das Maß halt voll. Es kann ja beim Schweigen nicht bleiben. Das Schweigen ist Bestandteil des Gedichts, nicht einer unendlichen Performance oder Installation. Das Schweigen ist in diesem Gedicht auch Zitat. Es ist ein strophisches Schweigen. Ich denke da an Jesse Thoor, der in seinen Gedichten zuweilen anstelle der ausgeschriebenen Strophen Striche gesetzt hat, getaktetes Schweigen. Ich denke hier das Schweigen auch musikalisch. Ein Innenspannungsschweigen. Das dann seine Zeit hat. Die abläuft.


Während einer Lesung, die ich erlebt habe, hat sich jemand im Publikum bewegt, so daß man das Knacken seiner Knochen hören konnte. Das brachte das Moment des Existentiellen, des Körperlichen ein. Ein Hör-Bild, das sich mit Worten gar nicht herstellen läßt. Du nutzt den Zufall als Material.
Das ist auch eine sogenannte Stimmungssache. Manchmal ist man eher ängstlich. Dann hält man sich an das von einem selbst Vorgeschriebene. Vielleicht löst sich die eigene Verhaltenheit dann auf, und es findet eine Art Osmose zwischen der aktuellen, akuten Umwelt des Textes, des Gedichts statt. Das gerade Gelesene oder das zu Lesende, das schon dicht vor Augen steht, empfinde ich dann manchmal als eine Antwort auf etwas gerade Geschehendes. Kommentare, direkt ans Publikum gerichtet, fließen ein, oder ich ändere daraufhin spontan das Programm, erzähle etwas, eine Anekdote, binde ein Husten oder einen merkwürdigen, nicht vorprogrammierten Lichtwechsel, einen Fehler im Ablauf etc. in die Lesung/Performance ein. Eine solche Situation kann natürlich auch kippen, die Situation trägt einen fort, Kabarettnähe kommt auf, oder etwas Peinliches bahnt sich an, wobei Peinlichkeit eine in Deutschland ja viel zu unterschätzte Kategorie, ein Spielball, Material ist.


Du hast beim Vortrag der Gedichte aus Aller Ding meist gesessen, weniger performt als bei früheren Veranstaltungen. Warum diese Annäherung an „klassische Lesungen“?
Es sind zunächst einmal Gedichte. Die für sich stehen. Da muß man vielleicht nicht auch noch selber stehen. Wirkung durch Wort oder Nichtwort, weniger angestrebt ist da eine Wirkung durch Außenbelebung. Stimme zählt natürlich, zählt immer. Es sind ja auch viele sogenannte gebrechliche Gebilde darunter. Leisere Töne. Textkontraste sind mir da wichtig. Aber allzu lange halte ich es sitzend auch nicht aus. Es ist manchmal erholsam, nicht zu stehen; und ich weiß, jetzt wird etwas Performiges erwartet. Ist doch schön, Erwartungshaltungen durchbrechen zu können. Ich möchte mich aber textadäquat verhalten. „Aller Ding“ ist zum Sitzen. Nicht immer. Das Stehen ist aber auch manchmal nur ein anderes Sitzen. Es ist ein vertikales Sitzen, manchmal. Stehen kann (und soll) was Atemloses haben. Wie meine „Sprechakte“. Andererseits ist es mir dann auch zu blöd, für ein einziges Gedicht aufzustehen und den Performer zu mimen. In ein abendfüllendes Programm von mir eingebunden, arbeite ich mit Kontrasten der Körperhaltung, die ästhetisch wieder zu den Texten, Stilen etc. zugehörig sind, ihnen eigen. Außerdem gibt es in „Aller Ding“ auch fast „klassische“ Gedichte – von der Haltung her. Denke ich.


Du hast nachdem Du das erste Gedicht - „ich habe mich nun lange mit dem tod beschäftigt“  - gelesen hast, das Blatt auf den Boden fallen lassen. Alle anderen hast Du in der Hand behalten. Wie weit geht die Inszenierung bei Deinen Lesungen, bis in solche leicht zu übersehenden Gesten?
Es kann etwas außer Kontrolle geraten. Was mir zunächst sympathisch ist; daß Kontrolle verlieren möglich ist. Ich bin/war mittendrin, heißt das dann für mich. Nicht mitten drin zu sein, kann andererseits schon an Peinlichkeit grenzen. Eine Verausgabung, die Kontrolle verlieren läßt, ist so ein Ideal. Das Publikum merkt hohle Pose, denke ich immer. Es geht da auch um etwas wie „Wahrhaftigkeit“ einer Körper-Geist-Einheit. Der Körper ist ein Gedichteigenes, auch. Inszenierung, nicht im Sinne des Theaters, ist mir sehr wichtig. Aber eben nicht Vorinszenierung bis zur abrufbaren Pose, die ich jeden Abend wiederholen könnte. Ich will mich auch selbst noch überraschen können, sonst habe ich bei einer Lesung, bei einem Konzert, auf der Bühne etc., keine Freude mehr. Es muß Anstrengung sein. Herausforderung. Arbeit. Vielleicht habe ich das zu-Boden-Fallen-Lassen als adäquat empfunden; vielleicht war das auch ein Ausdruck, selber froh zu sein, daß das Schweigen nun zu Ende ist. Eine Markierung. Nach einer Lesung/Performance im Stehen, die also dann ausgestanden ist, ist der Bühnenboden oft ein Blättermeer. Das hat auch den Grund, daß das ewige Blättern auf einem Notenständer, wie man das ja von  Konzerten bzw. Instrumentalisten her kennt, ein lästiger, eigentlich überflüssiger Begleitumstand ist, der zwar ritualisiert werden kann und wird, der Musik aber nichts hinzufügt. Zudem bin ich so flexibler: Ich habe die stimmungsmäßige Freiheit, einen oder mehrere zurechtgelegte Texte nicht zu lesen, lasse diese sprichwörtlich fallen, gewinne Zeit fürs Wesentliche, den Vortrag, kann herumwandern (besonders gut bei Mikroport, kabellosem Mikrophon), bin also ortsunabhängiger, kann ins Publikum gehen etc.


Du arbeitest in Deinen Texten viel mit Alltagssprache, „Volksmund“, Phrasen. Du liest sie aber oft stakkatoartig, mit hohem Tempo, mit gänzlich anderer als alltäglicher Betonung. Welche Effekte, Erlebnisse, Erkenntnisse ergeben sich für Dich durch dieses „andere Sprechen“?
Musikalisierung, Rausch, (Selbst)Überwindung, Fetisch Sprache, Sprechen als Trieb(leben), Vitalisierung, Sprechen als Sport, schneller als (begriffliches) (Mit)Denken sein (wollen), sich jung fühlen, Großstadtpotpourri der Laute; Ernst machen mit dem Gerede von Geschwindigkeit als alltägliche Erfahrung, Reflex dieser Erfahrung als ästhetisches Erleben, Brainstorming, Pulsieren, außer sich sein, aus seinem Munde hervorgehen, und der „Volksmund“ ist mitten drin; Erinnerung an meine Herkunft.


Du hast Dich wie kein zweiter mit der Geschichte der Lautpoesie beschäftigt. Von welchen Autoren hast Du am meisten für Deine eigene Auftritte gelernt – und was?
Von Josef Anton Riedl (München) lernte ich u.a. Konzentration, die Auffassung einer Lesung als Konzertsituation, das präzise Artikulieren als musikalisches Sprechen, das Empfinden für Zeiteinheiten und die simultane Aufführungspraxis von Live-Sprechen mit Tape- (CD-) Zuspielung. Bernard Heidsieck (Paris) und insbesondere Franz Mon (Frankfurt) weckten mein Interesse für lautpoetisch-prosaische Mischformen. Das Anhören der akustischen Arbeiten von François Dufrêne (Paris, gest. 1982) und Carlfriedrich Claus (Annaberg-Buchholz, Chemnitz, gest. 1998) machte mir sofort klar, anders als die Genannten arbeiten zu müssen, weil sie Artikulatorisches konsequent bereits bis an äußerste Grenzen vorangetrieben haben. Bob Cobbing (London, gest. 2002) zeigte mir, daß Lautpoesie ein gewaltiger körperlich-stimmlicher Akt sein kann. Von Jaap Blonk lernte ich, mich nicht zu schämen.


In Deinen Texten arbeitetest Du mit „erweiterten Fundstücken“, mit „Nachgetragenem“, „Konzepten und Rezepten“ – sprich: bearbeiteten Zitaten. Gibt es solche bearbeitete Zitate auch in einzelnen Formelementen Deiner Lesungen?
Zum Beispiel das Herumblättern in eigenen Büchern habe ich, als Formelement und Zitat, von Wolfgang Hilbig übernommen. In Frankfurt haben wir zusammen Gedichte vorgetragen, Hilbig blätterte in einem seiner Gedichtbände rum, suchte ein bestimmtes Gedicht, das dauerte, er kommentierte das Dauern, er bedauerte das, er fand das Gedicht nicht, weil es in einem ganz anderen seiner Bücher stand, er bedauerte das, las statt dessen ein anderes vor, das im zufällig unter die Augen kam, dann erinnerte er sich, wo das Gesuchte stand, blätterte wieder ... fand es schließlich, las es vor. Das war nicht so geplant, von Wolfgang Hilbig. Mir aber äußerst sympathisch, plötzlich, Rumblättern und Nichtfinden in Büchern während einer sogenannten Dichtelesung ging mir sonst immer auf die Nerven, ich las deshalb immer von Kopien ab. Rumblättern als Zitat einer traditionellen Lesung. Ein Vor-Augen-Führen. Das kann dann mehr oder weniger inszeniert sein oder wirken. Dann interessiert mich manchmal, einen plötzlich eingestreuten, weitläufig werdenden autorenpoetologischen Selbstkommentar ad absurdum zu führen. Warum soll es der sogenannte Dichter besser wissen? Täuschung des Publikums, ein weitere Zitatbearbeitung als Formelement der Lesung. So tun, als lese man etwas vom Blatt ab, was (vielleicht) gar nicht da steht.


Die Performances der klassischen Avantgarde (auch der Lautpoeten) und der 60er Jahre verband der Affront gegen das Bürgertum, gegen die Tiefensinnzumutung, gegen die Bewußtlosigkeit im Umgang mit Sprache. Findet eine solche Provokation heute überhaupt noch einen Resonanzraum außerhalb des Literaturbetriebes?
Was genau und wo ist dieser Literaturbetrieb? Diese Provokation, so sie denn eine solche ist oder sein soll, findet nicht mal mehr in diesem Betrieb statt. Für mich kann das nur immanentes poetologisches Element sein. Provokation um ihrer selbst willen ist schwachbrüstig, Zitat, falsch verstandene Avantgarde. Der Formgedanke („Spieltrieb“, „Formtrieb“ heißt es bei Schiller) ist wieder stärker in den Vordergrund getreten. Selbstthematisierung des Medialen. Und zu diesem Medialen, das als Formelement plötzlich auch inhaltlich werden kann, sozusagen durch die mediale Hintertür wieder als Inhalt reinkommt, gehören auch Fragen der Inszenierung, der Wahrnehmungspsychologie, der affektiven Rezeptionslenkung und -irritation. Wenn das Füllhorn des menschenmöglich Inhaltlichen zur Neige gegangen ist oder zu sein scheint, müssen Formelemente inhaltlich werden. Das nennt man dann mediale Erfahrung. Letztlich vielleicht nur eine tautologische Didaxe mit überraschenden Bluffqualitäten. Quälend nur das programmatische Gesabbere allerorten darüber; man denke nur an die Programmkommentare mancher Medienkunstverkündigungen.
Gemurmel, Nichtverstehen, Selbstthematisierung von Sinnfragen, die als solche (bloß) ausgestellt werden, die Frage als Antwort, sind bereits zum integralen Bestandteil von Alltagserfahrung geworden und als solche auch z.B. in die Werbung eingegangen. Das Signal könnte lauten: Auch wenn Du hier nichts verstehst, auch wenn Dir hier Schrift von keinerlei Sprache begegnet, auch wenn Du im Dschungel bist, Du weißt, wo es lang geht. Nichtverstehen als Primärerfahrung wirkt hierdurch – und vielleicht ist das auch ein Effekt von Globalisierung – nicht mehr so bedrohlich; es ist fast schon zivilisatorische Grundvoraussetzung geworden, ein allgemein geteiltes Allgemeines. Nichtverstehen ist vielleicht auch das eigentliche Phantom des Literaturbetriebs. Man braucht auch ein Buch nicht mehr gelesen zu haben, um darüber sprechen oder urteilen zu können. (Sprechen ist immer schon urteilen.) Das Abrufen eines einzigen Medienbegriffs ersetzt die Sinnfrage.






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